Offenland
Vom Wald in die Flur
Ohne die jahrtausendelange menschlicher Nutzung, Übernutzung und Umnutzung der Wälder wäre Deutschland auch heute noch überwiegenden bewaldet. Lediglich rund 10 % der Landesfläche wäre natürlich waldfrei, etwa Höhenlagen jenseits der Baumgrenze, Hochmoore, Sukzessionsflächen nach natürlicher Dynamik oder extreme Sonderstandorte wie etwa trockene Felsen.
Heute beträgt der Waldanteil in Deutschland noch ca. 30 %. Dies ist das Ergebnis eines 5.000-jährigen Prozesses, in dem der Mensch sich immer weiter ausbreitete und die Landschaft entsprechend seiner Bedürfnisse anpasste. Die heutige Wald-Feld-Verteilung war etwa im 13. Jahrhundert abgeschlossen. Um 1700 waren die meisten der heute waldreichen Mittelgebirge durch Übernutzung und einer aus der Not erzwungenen Landwirtschaft weitgehend kahlgeschlagen. Während viele Mittelgebirge ab 1800 wieder aufgeforstet wurden, dauerte die Offenlandnutzung für Beweidung und Ackerbau in vielen Bereichen Deutschlands an. Die Hochflächen der Rhön, die Lüneburger Heide, Teile des Schwarzwaldes, der Schwäbischen Alb, des Erzgebirges und der Eifel blieben so bis heute waldfrei.
Die gerodeten Waldfläche wurden vom Menschen für die Haltung von Nutztieren, den Anbau von Feldfrüchten, Obstplantagen und Weinberge genutzt. Dadurch wurden verschiedenen Getreidearten, Rinder, Schafe, Obstgehölze und viele andere Arten auf den offenen Flächen kultiviert. So entstanden über die Jahrtausende Hutewälder, Heideflächen, Streuobstwiesen und Magerrasen mit ihrer jeweils spezifischen Artenvielfalt. Die ursprünglichen Tier- und Pflanzenarten verschwanden oder passten sich an die Bewirtschaftungsformen an. Fremde Arten aus anderen Regionen der Welt kamen hinzu. Viele Acker-(Bei-)Kräuter zählen dazu, aber auch Kulturfolger wie Weißstorch, Wiedehopf oder wärmeliebende Insekten. Neben Wäldern und den relativ intensiv genutzten Äckern prägten diese Kulturökosysteme das heutige Landschaftsbild.
Mit der aufkommenden Industrialisierung der Landwirtschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts änderte sich das Landschaftsbild nochmal drastisch. Weniger produktive Flächen wurden zu „Unland“ erklärt und sollten in ertragreicheren Boden verwandelt werden. Bald lohnte sich auch die extensive Nutzung als Schafweide, Streuwiese oder Hutung nicht mehr, und viele der Flächen wurden nicht mehr bewirtschaftet. Auf besseren Standorten wurden Strukturelemente wie Hecken und Solitärbäume beseitigt und mithilfe von Dünger und Maschinen die landwirtschaftliche Nutzung intensiviert. Viele Heideflächen gingen z. B. durch Tiefumbruch und künstliche Düngung verloren. Wo dies nicht möglich war, wurden oftmals Bäume gepflanzt, jedoch meist als nicht standortgerechte naturferne Forste bestehend aus Fichten oder Kiefern. Dort wo die permanente oder periodische Nutzung wegfiel, setzte eine natürliche Sukzession ein, und der Wald eroberte die offenen Flächen Stück für Stück zurück. Ein großer Teil dieser extensiv genutzten Kulturlandschaft ging so innerhalb weniger Jahrzehnte verloren, und mit ihr auch viele der angepassten Arten.
So weist der Umweltmonitor 2020 des Bundesamts für Naturschutz etwa einen signifikanten Artenrückgang im Argrarland im Vergleich zu den 1970er Jahren auf. In der Rote Liste der gefährdeten Biotoptypen von 2017 sind z. B. Calluna, Heiden und Küstendünenheiden als stark gefährdet eingestuft, (Halb-)Trockenrasen, Streuobstbestände und artenreiches Grünland frischer Standorte gar als „von vollständiger Vernichtung bedroht“.
Das artenreiche, extensiv genutzte Grünland mit Hecken, Rainen und Kleingewässern, das fast ein Drittel der heimischen Farn- und Blütenpflanzen Deutschlands beherbergt, geht bis heute bundesweit stark zurück. Derzeit liegt der Flächenanteil noch bei 11,4 %. Um diese verhängnisvolle Entwicklung umzukehren, sieht die Nationale Strategie zur Biologischen Vielfalt der Bundesregierung vor, mithilfe von Fördergeldern ökologische Maßnahmen durchzuführen, um den Anteil des artenreichen HNV-Grünlands (High Nature Value Farmland) zu erhalten bzw. wiederherzustellen.
Für den Erhalt der Biodiversität in unserer Kulturlandschaft haben diese Lebensraummosaike eine Schlüsselfunktion: Eine Vielzahl der Tier- und Pflanzenarten, insbesondere viele Brutvogelarten sind auf diese Strukturen angewiesen. Um den offenen Charakter dieser Landschaft zu bewahren, hat die Pflege dieser Flächen eine hohe Bedeutung.
Prozess- oder Statusschutz
Mit dem Ende der traditionellen Nutzung droht auch das Ende dieser artenreichen Lebensräume. Im Naturschutz stehen wir deshalb oft vor der Entscheidung, Prozesse laufen zu lassen und der natürlichen Sukzession Raum zu geben oder mit gezielten Maßnahmen einzugreifen, um Landschaftsbilder und Artengemeinschaften zu erhalten.
Beides kann sinnvoll sein und die Entscheidung muss von Fall zu Fall sorgfältig abgewogen werden. In den Offenlandprojekten des Bergwaldprojekts versuchen wir, den Charakter alter Kulturlandschaften und deren Biodiversität zu bewahren oder wiederherzustellen.
So unterschiedlich unsere Kulturlandschaften sind, so vielfältig können auch die Maßnahmen sein, die zu ihrem Erhalt notwendig sind. Mal geht es um die Entnahme von aufkommenden Bäumen in den Heideflächen von Cuxhaven oder Hiddensee, mal mähen wir Magerrasen und arbeiten im Schneeheide-Kiefernwald an Lech und Halblech, um sie als Orchideen-Standort zu erhalten. Streuobstwiesen werden z. B. in Bermersbach angelegt und gepflegt, während es in der Rhön und im Sinngrund um die Bekämpfung invasiver Pflanzen wie Lupine, Wasserkreuzkraut und Goldrute auf artenreichen Wiesen geht.